***Aus dem Leben - Min Amsel von Ad. Holst***
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Aus dem Leben

Min Amsel

Mitten in der krummen engen Gasse stand das alte Haus.

Es war so schief und wackelig, dass man meinte, es müsste jeden Augenblick einstürzen. Aber es dachte gar nicht daran.

Es hatte winzig kleine Fenster, die aussahen wie müde blinzelnde Augen, und einen wunderlich verschnörkelten Giebel mit seltsamen Verzierungen.

Wer aber hineinwollte, der musste sich gehörig bücken, und wenn er noch so hochmütig war. Ja, so war das Haus; weiß Gott, wer es gebaut hatte und wie lange das her war.

Man musste eine steile, gewundene Treppe hinaufsteigen, um zu dem alten Großvater zu kommen, der oben in dem Haus wohnte. „Knarr – knarr – knack!“ machten die Stufen, die schon ganz ausgetreten waren. „Knarr – knarr – knack! Lasst uns zufrieden!“ und das Geländer krachte: „Wir brauchen keinen Besuch!“ Ja, so unhöflich war es.

Besuch! Du lieber Gott! Das kam so selten vor, dass es gar nicht der Mühe wert ist, davon zu erzählen. Der alte Großvater wohnte oben ganz allein in seinem Stübchen, das nach dem Garten hinausging. Im Garten blühten der Goldlack und die Malven, die Kinder spielten, und die Vögel sangen. Oben aber im Lehnstuhl saß der alte Großvater und schmauchte sein Pfeifchen. Er saß im Schlafrock und in Pantoffeln und hatte ein schwarzsamtenes Käppchen auf, das schief und keck auf dem dünnen weißen Haar saß.

„Paff – paff!“ machten die Rauchwolken und fuhren im Zimmer umher wie Pulverdampf in der Schlacht, und dann erzählten sie. Sie erzählten von fernen Ländern, in denen der Tabak wächst, und von den Indianern, die in Wigwams saßen und die Friedenspfeife rauchten. Und von dem kleinen Jungen erzählten sie, der hinter der Zaunhecke lag und die erste Zigarre versuchte. Weißt du noch, alter Großvater? Weißt du noch? Und der alte Großvater lachte und schmunzelte. Jawohl, er wusste noch alles, von der Hecke und von den Bauchschmerzen und von den Prügeln, die er bekommen hatte, damals, als er so blass nach Hause kam.

„Paff – paff!“ machten die Rauchwolken, „ja das war eine Zeit!“

„Ticktack! Schnickschnack!“ sagte jemand, der über dem Lehnstuhl hing. „Zeit! Was wisst ihr von der Zeit! Blauer Dunst, das ist alles, was ihr könnt! Fragt mich nur! Ich weiß, wann der Kaiser seine Mittagssuppe ist, und wann die kleine Prinzessin zu Bette muss. Pünktlich, pünktlich, das ist die Hauptsache im Leben!“ –

„Gott, wie vornehm!“ sagte die Tabakspfeife, „aber wir wissen, was dahinter ist, wir wissen es ganz genau! Aufgezogen musst du werden, das ist es. Puh! Ich würde mich nicht aufziehen lassen, um alles in der Welt! Es ist so gewöhnlich! Paff – paff!“

„Und ich möchte nicht gestopft werden!“ rief die Uhr und schnarrte vor Ärger. „Das ist bei weitem gewöhnlicher! Das ist geradezu ordinär!“ Und dann schrie sie: „Kuckuck!“

Wahrhaftig, ja das tat sie, denn sie war eine Kuckucksuhr, und genau das war ja gerade das Vornehme. Eine kleine Klappe sprang auf, und dann guckte ein kleiner Vogel heraus. „Kuckuck! Kuckuck!“ rief er und schlug mit den Flügeln. Er war zwar nur aus Holz geschnitzt, aber dafür konnte er nichts, und das war schließlich keine Schande. Aber „Kuckuck!“ konnte er rufen, sogar zwölfmal hintereinander, und das ist immerhin etwas.

„Trrr – tütütü!“ rief es vom Fensterchen, und das war ein Kanarienvogel, der im Käfig saß, „trrr – tütütü! Bist du wieder da, kleiner Kuckuck? Warte ein wenig, ich bin gerade beim Baden!“ Und dann schüttelte er sich, dass das Wasser spritzte, und putzte sich die Federn blank. Dann kam er herausspaziert, denn der Käfig stand offen bei Tag und Nacht. Der Kanarienvogel war sehr zahm. Es war ganz merkwürdig, wie zahm er war.

Jeden Morgen, wenn der alte Großvater noch schlief, flog er auf sein Bett und weckte ihn. Er sang ihm das schönste Morgenlied, das er gelernt hatte, und wenn das nicht half, zerrte er ihm die Nachtmütze vom Kopf und pickte solange, bis er die Augen aufschlug. Dann war er zufrieden, und der alte Großvater nahm ihn in die Hand und koste ihn: „Min Amsel!“ sagte er, denn so nannte er ihn, obwohl er ein Kanarienvogel war, „min Amsel!“ Und der kleine Vogel drückte sich eng an seine Wange und war so glücklich.

Er saß auf dem Rand der bunten Tasse, wenn der alte Großvater Kaffee trank. Und wenn er die schwarze Hornbrille aufsetzte und seine Zeitung las, so saß der kleine gelbe Vogel auf seiner Schulter und guckte mit in das Blatt. „Piep – piep!“ sagte er. „Ich verstehe alles, was drin steht.“

Und dann kam die Tabakspfeife. „Paff! – paff!“ machten die Rauchwolken. Die Uhr tickte, und der Kuckuck rief.

- Ja, das war doch von allem das Niedlichste: Jedes Mal, wenn der Kuckuck rief, was jede halbe Stunde passierte, antwortete der Kanarienvogel: „Trrr – tütütü!“ Das sollte heißen: „Jawohl hier bin ich.“ Und dann suchte er ihn. Er flog oben auf die Uhr und wartete, er saß mit schiefem Kopf, guckte herunter und wartete. Und wenn es ihm zu lange dauerte, klopfte er heftig mit dem Schnabel auf den Deckel und rief: „Piep – piep! Komm heraus, kleiner Kuckuck!“

Aber der Kuckuck kam nicht. Er hatte seine Pflicht getan, wenn er auch nur aus Holz geschnitzt war. Nun saß er drinnen in seinem dunklen Haus und wartete, bis es wieder Zeit war, „tick – tack – tick – tack!“ Ja, das war mal ein glücklicher Vogel!

Und dann kam die Sonne und lachte. Sie schien auf den Käfig im Fenster und auf den alten Großvater im Lehnstuhl. Die Uhr wärmte sich in ihren Strahlen, und die Tabakswolken tanzten in dem goldenen Duft. Aus dem Garten wehten der Hauch der blühenden Blumen und das Jauchzen der Kinder herein. Das alles fühlte der Kanarienvogel, und sein kleines Herz wurde ihm weich und weh vor Sehnsucht nach all der Schönheit draußen in der Welt.

„Komm heraus, kleiner Vogel!“ riefen die Schwalben, die vorüber schossen, und die Finken, die in den Zweigen hüpften, lockten: „Komm heraus! Komm heraus! Hier ist Sonne und Seligkeit! Hier ist Freiheit und Friede! Das Fenster ist offen; fliege nur, fliege nur!“ – Aber er flog nicht. Er blieb in dem alten Haus und bei dem alten Großvater, der so allein war. So war ein Tag wie der andere. Die Uhr tickte, und die Zeit, sie verging.

Aber eines Tages kam es doch ganz anders.

„Knarr – knarr – knack!“ sagten die Treppenstufen, und das Geländer krachte: „Besuch, es kommt Besuch!“ Und wahrhaftig, so war es.

Ein Mann kam die Treppe hinauf. Er hatte ein freundliches Gesicht und summte ein Liedchen vor sich hin. Als er aber wieder herunterkam, war er ernst und still. Ja, einige Stufen waren sogar der Meinung, dass er geseufzt hätte, aber sie wussten es nicht genau, da das Geländer so laut ächzte. Es war der Arzt, der bei dem alten Großvater gewesen war. Denn der war sehr krank, sehr krank. Und dann kam wieder Besuch. Dieses Mal war es die Krankenschwester, die bei dem Kranken wachen und ihn pflegen sollte. Und zuletzt, ja, da kamen Männer, die brachten den Sarg. Denn der alte Großvater war gestorben.

Da lag er nun friedlich und freundlich in seinem schneeweißen Kleid, die Hände lagen gefaltet über der Brust, und es war, als ob er schliefe und lächelte im Traum. – Die Fenster standen weit auf, und die Sonne schien, die Blumen dufteten, und die Vögel im Garten sangen wie sonst: „Komm heraus, komm heraus!“

Der kleine Kanarienvogel aber saß still und verstört auf seiner Stange im Käfig und rührte sich nicht. Er fraß nicht und trank nicht, und das Wasser in seinem Badehäuschen blieb unberührt.

Einmal nur, des Morgens früh, flog er mitten ins Zimmer, wo der Sarg stand, und setzte sich auf die gefalteten Hände des Großvaters, der nun gestorben war. Er sang ihm das schönste Morgenlied, das er gelernt hatte. Er sang es lieblicher und süßer als je zuvor.  Dann hüpfte er ihm auf die Schulter und schmiegte sein Köpfchen an die blasse, kalte Wange. „Piep – piep!“ machte er und wartete. Aber niemand streichelte und koste ihn, und keine liebe Stimme rief: „Amsel, min Amsel!“ Da flog er wieder zurück in seinen Käfig, setzte sich auf seine Stange und blieb still und regungslos. Die Uhr tickte, und der Kuckuck rief, aber er hörte es nicht. Er sah nur unverwandt nach dem Gesicht des alten Mannes im Sarge und wartete.

Am anderen Morgen fanden sie ihn tot am Boden des Bauers. Sein kleines Herz war ihm vor Trauer gebrochen. Die Kinder gruben ihm ein kleines Grab dicht neben dem, in dem der alte Großvater ruht. –  Schlafe süß, kleiner Vogel!



Ad. Holst