*** P H Ä N O M E N E ***




Es ist wohl schon einige Jahre her, da hatte ich einen Traum. Dieser war schön, sehr traurig
und wurde so real von mir erlebt, dass ich heute noch eine Gänsehaut bekomme, wenn ich an ihn
zurückdenke.



Ich stand allein an einer Straße auf einem grauen Bürgersteig und schaute durch das erhellte
Parterre- Fenster eines Wohnhauses. Drinnen links in der Ecke am Fenster stand ein Bett und es
lag eine junge Frau darin, die offensichtlich sehr krank war. Im Raum hielten sich noch mehrere
Menschen auf, die sehr traurig waren, darunter befanden sich ihre Eltern und ihr Partner, ein
junger Mann. Die Menschen brachten dem jungen Mädchen sehr viel Zuneigung entgegen, es
war unglaublich viel Liebe in dem Raum, so dass sie mir, vergesellschaftet mit der unermesslich
empfundenen Trauer, fast unerträglich erschien.




Zumal mir, die ich durch das Fenster schaute, bewusst geworden war, dass ich das Mädchen auf
dem Krankenlager war.



Ich, das Mädchen, wusste das die Zeit für den Abschied nahte. Tiefe Trauer meiner Traum-
Eltern, der anderen Anwesenden, viele junge Leute darunter, und meines Liebsten vermischten
sich mit meiner Trauer. Mein Liebster saß an meinem Bett, hielt meine schwache Hand, schwor
mir ewige Liebe und wollte mich nicht gehen lassen.


Ich wollte auch nicht gehen, ich sah in seine lieben Augen und die Klarheit, zu wissen, gehen zu
müssen, tat mir im Herzen so weh, dass dieses schwer in meiner Brust lag. Doch ich wusste auch
- und dieses Wissen war ganz rationoal - wie unumstößlich der Abschied war.


Ich, die durch das Fenster diese tragische Situation beobachtete und gleichzeitig jenes junge
Mädchen war, spürte, wie es Abschied nahm. Das Scheiden war begleitet von den hilflosen
schweren Gedanken des Mädchens, ihre Lieben nicht verlieren zu wollen, es jedoch unweigerlich
zu müssen. Auch ihre Angehörigen wollten sie nicht loslassen.
Während der Herzschmerz des sterbenden Mädchens mir, die ich am Fenster stand, die Brust
verkrampfte und ich riesige Seen voll Tränen in mir spürte, dachte ich:



Sei doch nicht so traurig, weine doch nicht. Du kommst bald zu Deinen neuen Eltern, und die
Namen meiner jetzigen Eltern präsentierten sich in meinen Gedanken.



Dann wurde ich schluchzend wach – in meinen Augen brannten Tränen und hinter meinem
Brustbein befand sich ein schwerer, drückender und krampfartiger Schmerz.



Schwermütig startete ich in den darauf folgenden Tag.



Obwohl ich mit meinen Eltern super zufrieden bin, habe ich die Traum – Angehörigen, während
der ersten Zeit nach dem Traum, schmerzlich vermisst, und deren „Verlust“ tat mir noch eine
ganze Weile merklich irgendwie emotional weh.



Erst, nachdem einige Tage vergangen waren, verblasste allmählich die enorme
Gefühlsauffälligkeit, nie aber die Erinnerung.



Sabine

(1991)



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