Besenbinders Friedel
Einen gefälligeren, fleißigeren Jungen als des Besenbinders Friedel gab es im ganzen Dorfe nicht. Obwohl ein gar kleiner Knirps, war er doch Erster in seiner Klasse, und zuhause half er Vater und Mutter, wo und wie er nur konnte.
Das war freilich auch sehr notwendig, denn Friedels Eltern waren arme, sehr arme Leute, die oft nicht wussten, woher sie das Brot für sich und ihre fünf Kinder nehmen sollten.
Der Vater war früher Forstaufseher gewesen. Als ihm aber beim Fällen einer riesigen Eiche durch eigene Unvorsichtigkeit der Fuß zerschmettert worden war, da hatte es ein Ende mit dem sicheren Einkommen. Er musste nun an einer Krücke gehen, konnte nicht mehr in Wald und Feld arbeiten, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Familie, so gut es eben ging, mit Besenbinden zu ernähren.
Die Mutter war eine blasse, stille Frau; Friedel hatte sie noch selten fröhlich gesehen. Wenn der Vater wieder mehrere Dutzend Besen verfertigt hatte, ging sie damit in die Stadt zum Händler, lieferte die Ware ab und nahm das Geld in Empfang.
Friedel sann nun Tag und Nacht, wie er es wohl anfangen könne, seinen Eltern und Geschwistern bessere Tage zu verschaffen. Sein heißester Wunsch war, ein Lehrer zu werden, denn er dachte es sich zu schön, wenn er seine Eltern und Geschwister zu sich nehmen könne, wenn sie alle zusammen in einem hübschen, freundlichen Hause mit Garten wohnen würden, wenn der Vater sich nicht mehr so plagen müsse und die Mutter wieder heiter und fröhlich würde.
Eines Abends, als er neben seinem Brüderchen in dem harten Bette lag und der Vater vorüberging, fasste er ihn bei der Hand und fragte ganz leise und schüchtern: „Vater, kann ich denn nicht später ein „Herr Lehrer“ werden?“
„Armer Junge“, sagte der Vater und strich ihm mit seiner schwieligen, harten Hand liebkosend über den kleinen Kopf.
„Um Lehrer zu werden, muss man lange und viel lernen, und das kostet Geld, viel Geld, Friedel. Schlage dir den Gedanken aus dem Kopf. Wenn du aus der Schule kommst, dann gehst du in die Fabrik zur Arbeit, da verdienst du gleich etwas.“
Ganz still lag der kleine Mann da; aber als der Vater weggegangen war, da drückte er seinen Kopf fest in die Kissen, damit ihn niemand weinen und schluchzen höre.
Mit aller Macht war der Winter ins Land gekommen. Die Mutter war krank, und so wurde Friedel eines Morgens in die Stadt geschickt, um die Besen abzuliefern. Der Vater band sie auf dem Schlitten fest, steckte seinem Knaben ein Stück Brot und einen Apfel in die Tasche und ermahnte ihn, recht tüchtig zu laufen, damit er vor dem Dunkelwerden wieder zuhause sei. Ganz stolz war unser Friedel, dass er den Weg allein machen durfte. Er nahm den Gurt über die Schulter, und – heidi! – eilte er mit dem Schlitten davon. Um die Straße abzukürzen, schlug er einen Waldweg ein. Dort ging er vorsichtig und bedächtig weiter, damit er bei dem verschneiten Wege nicht etwa über die Baumwurzeln stolpere.
Auf einmal sah er etwas am Boden liegen, das glänzte und funkelte gar wunderschön, und als er sich danach bückte, hatte er einen goldenen Ring mit einem wasserhellen Stein in der Hand. Vorsichtig ließ er ihn in seine Hosentasche gleiten. Dann holte er ihn wieder hervor, um sich an dem wunderschönen Farbenspiel des Steines zu erfreuen, und damit er ihm ja nicht verloren gehe, steckte er ihn schließlich in seinen großen Fausthandschuh und ballte die kleine Hand krampfhaft zusammen.
Als er dem Händler in der Stadt die Besen ablieferte, zog er die Handschuhe aus und legte seinen Fund neben sich auf den Tisch.
„Potztausend! Junge, lass mal sehen! Wie kommst du zu dem Ring?“ fragte der Händler misstrauisch.
„Den habe ich vorhin im Walde gefunden“, antwortete Friedel und sah dabei dem Mann so offen und treuherzig ins Gesicht, dass dieser an der Wahrheit der Worte nicht zweifeln konnte.
„Hat es denn niemand gesehen, dass du ihn aufgehoben hast?“ forschte der Händler weiter.
„Nein, es war weit und breit kein Mensch zu sehen. Es ist mir auch niemand begegnet, sonst hätte ich schon danach gefragt“, antwortete Friedel.
„So gib mir den Ring“, sagte der Krämer, der wohl wusste, welchen Wert der Diamant hatte. „Sieh ich lege dir hier auch zehn neue Markstücke auf den Tisch!“
Da gingen dem Besenbinder- Friedel ordentlich die Augen über. Schon wollte er dem Händler das Schmuckstück aushändigen, da fiel ihm ein, dass es ja eigentlich gar nicht sein Eigentum war, über das er verfügen wollte.
Er hörte die Worte des Vaters: „Ehrlich währt am längsten.“
Sein Herz klopfte und hämmerte zum Zerspringen, und als der Händler eben in den Laden gerufen wurde, eilte er mit dem Ringe hinaus, nahm seinen Schlitten und lief heimwärts, was er nur laufen konnte.
Zuhause angekommen, lieferte er dem Vater das gefundene Kleinod ab, und dieser gab ihm den Auftrag, den Ring zum Herrn Pfarrer zu bringen, weil dieser wohl am ehesten Gelegenheit habe, den Eigentümer ausfindig zu machen.
Es war schon spät am Abend, als Friedel am Pfarrhaus stand und um Einlass bat. Der alte ehrwürdige Herr mit dem milden, freundlichen Gesicht nahm ihn mit sich in sein behaglich warmes Studierzimmer, wo ihm der Kleine den Ring übergab und von seinem Fund erzählte.
„Lieber Junge, es ist ein großes Glück, dass gerade du den Ring gefunden hast. Er kann noch zum Segen für euch alle werden!“ sagte bewegt der Pfarrer.
„Das Schmuckstück gehört dem Grafen drüben auf Schloss Wendelstein. Er hat den Ring schon vor mehreren Tagen im Wald verloren, und da er ihm ein teures Andenken ist, hat er dem ehrlichen Finder und Überbringer eine große Belohnung zugedacht. Ich gebe dir ein paar Zeilen mit, und morgen machst du dich in aller Frühe auf den Weg zum Schloss!“
So blank hatte Friedel seine schweren, Nägel beschlagenen Schuhe noch nie gewichst, und so sauber hatte er seinen dünnen, fadenscheinigen Sonntagsanzug noch nie gebürstet, wie am nächsten Morgen. Sobald es nur einigermaßen hell war, stiefelte er lustig darauf los. Zwei gute Stunden hatte er zum Schloss Wendelstein zu gehen. Der Kastellan mit seinem roten, mit Goldtressen besetzten Rock, dem mächtigen Dreimaster auf dem Kopfe und dem großen, vergoldeten Stabe in der Hand, fragte ihn nach seinem Begehr. Als Friedel sagte, er möchte gern den Grafen sprechen, da fuhr ihn der Schlosswächter an: „Nichts da! Scher’ dich weiter! Da kann ja jeder kommen.“
Ganz betrübt blickte der Kleine an seinem Sonntagsanzug hinunter. Er war ja – seiner Ansicht nach – so schön gekleidet und so sauber zurecht gebürstet, wie konnte der Mann nur sagen: „So kann jeder kommen!?“
Schüchtern zog er den Brief des Herrn Pfarrer aus der Tasche. Der Kastellan übergab ihn einem Diener und brummte etwas von „Bettelvolk“ dabei.
Aber als der Diener zurückkam und meldete, dass der Junge ungesäumt einzulassen sei, da wurde er doch freundlich und legte sogar ein gewisses Wohlwollen für den armen, frierenden Knaben an den Tag.
Friedel wurde nun durch eine große, hohe Halle über einen breiten, mit Bogenfenstern versehenen und mit großen Bildern und Säulen geschmückten Gang in das Wohnzimmer des Schlossherrn geführt. Dieser saß am Schreibtisch, und zu seinen Füßen lag ein mächtiger Bernhardinerhund.
„Komm näher, mein Junge!“ rief er freundlich, als Friedel, der seine Mütze verlegen in der Hand drehte, in der Tür stehen blieb. Auf den Zehenspitzen schlich der Kleine hinzu, machte einen Kratzfuß, den ihm die Mutter in der Eile noch beigebracht hatte, legte den Ring auf den Tisch, machte wieder einen Kratzfuß, der dem ersten an Ungeschicklichkeit in Nichts nachstand, und wollte – eins, zwei, drei – wieder zu der großen, eichenen Flügeltür hinaus.
„Halt, halt – nur langsam! Hast du’s denn so eilig?“ rief der Graf belustigt.
„Ja, Herr Graf“, stotterte Friedel, „ich möchte’ halt heute noch Holz aus dem Walde holen, und es wird schon so früh dunkel.“
Da zog Herr von Wendelstein die Schublade seines Schreibtisches auf, drückte Friedel eine Geldrolle in die Hand und sagte: „So, das bringst du deinem Vater und deiner Mutter, weil sie solch einen prächtigen, kleinen Jungen haben. Nun wollen wir zwei aber auch abrechnen. Der Herr Pastor hat mir geschrieben, dass du ebenso fleißig und brav seiest, wie du ehrlich bist. Sieh, das ist schön von dir und gefällt mir. Du hast mir eine große Freude gemacht, dadurch, dass du mir den Ring, den mein Vater früher getragen hat, wiedergebracht hast. Da ist es nicht mehr als recht und billig, dass ich dir auch eine Freude mache. Nun schieße mal los! – Was möchtest du denn gern?“
Da war auf einmal alle Furcht von Friedel gewichen. Er trat vor, vergaß sogar seinen Kratzfuß und sagte:
„Ach, Herr Graf, ein Lehrer möchte’ ich halt werden!“
Dabei richtete er sein pausbackiges, rotes Gesicht und seine blauen, offenen, treuherzigen Augen so fest auf die des Schlossherrn, wie wenn er ihn schon lange gekannt hätte.
„So, so, sieh da! Da haben wir also die Bescherung! Ein Herr Lehrer will er werden, die Jungen prügeln, Arrest diktieren, das glaub’ ich! Das würde dir Spaß machen, nicht wahr?“
„Nein, Herr Graf“, beteuerte Friedel und schluckte tapfer die Tränen hinunter;
„ich möchte recht viel lernen, und dann möcht’ ich meinen Vater und meine Mutter zu mir nehmen, damit sie keine Sorgen mehr haben.“
Da bekam der Kleine aber eine Patschhand vom Herrn von Wendelstein, so herzlich und warm, wie er in seinem ganzen Leben noch keine bekommen hatte. Und als er dann entlassen war, da eilte er nach Hause wie der Wind.
War das eine Freude in des Besenbinders Hütte, als Friedel die Belohnung auf den Tisch legte. Und als die Mutter ihn fragte, ob er denn auch seinen Kratzfuß ordentlich gemacht habe, da rief er ganz stolz:
„Und wie, Mutter!“
Am nächsten Morgen hatte der Graf eine lange Unterredung mit dem Herrn Pfarrer. Das Ergebnis war, dass Friedel von Ostern ab in eine höhere Schule in die Stadt geschickt wurde.
Dort lernte er so fleißig und brav, dass er bald seine Mitschüler überflügelte. Und später schickte ihn Herr von Wendelstein zur Universität. Auch dort strebte er tüchtig vorwärts und machte seinem Wohltäter, der ihm längst zum väterlichen Freunde geworden war, alle Ehre.
Jetzt ist er ein sehr beliebter, tüchtiger Professor, dem die Herzen seiner Schüler und aller, die ihn kennen, warm entgegenschlagen.
Das Glück und der Erfolg haben ihn nicht kalt und hochmütig gemacht. Er war die beste Stütze seiner alten, braven Eltern bis an ihr Lebensende; er sorgt und wacht über seine Geschwister, und wenn der arme Besenbinder- Friedel von früher einen tüchtigen Schüler hat, dessen Eltern die Mittel zu seiner Ausbildung nicht geben können, so hilft er mit Rat und Tat, wo und wie er nur kann. Weiß er doch, wie hart und drückend die Armut ist.
L. Sommer