Das Mückenkind
im Gasthaus zur Glocke
Es war einmal ein kleines Mückenkind, das hatte ein schwarzes Köpfchen und große, grüne Perlaugen. Dazu besaß es sechs lange, schlanke Beinchen und große, glashelle Flügel. Mit den Beinchen konnte es ganz fix laufen und mit den Flügeln ganz gewandt fliegen. Fast den ganzen Tag schaukelte es sich mit den Flügeln im warmen goldenen Sonnenlicht und war dabei vergnügt und guter Dinge.
Einmal hatte es schon viele Stunden mit seinen Kameraden über einer grünen Wiese gespielt und war des Haschens und Versteckens nicht satt geworden. Da überzog sich der Himmel allmählich mit dicken, schwarzen Wolken. Kein Fleckchen von dem schönen Blau war mehr zu sehen, und auf einmal fegte ein starker Windstoß daher, dass alle Grashalme auf der ganzen Wiese flatterten und zitterten. Der böse Sturm fuhr auch in die Mückengesellschaft und trieb das vergnügte Wölkchen weit auseinander, dass eins mitten ins Gras hineinpurzelte, eins den Baum hinaufwehte und ein drittes gar in den tiefen Bach hineinfiel, wo es elendiglich ertrunken wäre, wenn es nicht hätte so gut schwimmen können.
Wo war aber unser kleines Mücklein geblieben? Der Wind hatte es hoch in die Luft gewirbelt, weil es so federleicht war. Das war gut, denn so konnte es doch nicht in den Bach fallen und ertrinken. Denn es hatte ja noch nicht das Schwimmen gelernt. Aber hoch in der Luft war es doch sehr bange und verzagt, denn es sah, dass das schöne Abendrot ganz verschwunden war und der Himmel ein schrecklich finsteres Gesicht machte. „O“, dachte es, „wäre ich doch daheim unter unserem sicheren Dache, denn gleich wird es stockdunkel, und die dicken Regentropfen fallen herab und fallen mir auf den Kopf, oder sie schlagen auf meine zarten, seidenen Flügel! Dann kann ich gar nicht mehr fliegen. O, wäre ich doch zuhause oder hätte eine sichere Herberge!“
Aber immer weiter vom Hause trieb der böse Sturm das arme Mücklein weg. Da wurde der Wind für einen Augenblick schwächer, und das Mücklein konnte seine Augen wieder richtig gebrauchen. Da sah es vor sich etwas Blaues schimmern. Zuerst meinte es, das sei ein Stückchen Himmel, das auf die Erde gefallen wäre – denn ein Mückchen kann nur einen Tisch weit sehen. Dahin wollte es; und weil der Wind so schwach war, konnte es auch darauf zufliegen. Als es näher kam, sah es, dass das Blaue kein Stückchen Himmel, sondern eine große Blumenglocke war, die an einem langen grünen Seile hing.
Schnell klammerte sich das Mücklein an den Rand der Glocke und rief ihr zu: „Ach, du liebe Glockenblume, darf ich mich für ein Weilchen in deiner großen Stube aufhalten? Ich habe eine furchtbare Angst und bin todmüde. Ach, erlaube mir’ s doch, sonst komme ich noch in dem bösen Sturmwetter ganz um!“
„Tritt nur geschwind ein!“ antwortete eine tiefe, aber wohlklingende Bassstimme. „Mein ganzes Haus steht dir zur Verfügung. Komm herein, und mache es dir bequem!“
Da marschierte die kleine Mücke ganz herein und setzte sich mäuschenstill in eine Ecke der Stube. –
Draußen fielen jetzt die dicken, runden Regentropfen klatschend herunter; aber die Wände des blau tapezierten Kämmerchens waren wasserdicht und dem Mückchen wurde es ordentlich wohl darin.
„Ach, wenn ich nur die ganze Nacht in dem schönen Stübchen bleiben könnte!“ seufzte es leise vor sich hin. „Aber ich habe mein Geldtäschchen vergessen und kann für das Nachtquartier keinen Pfennig auslegen.“
Was aber das Mückchen so leise vor sich hinsagte, hatte die Glocke wohl vernommen. Darum sagte sie: „Liebes Mückchen, bleibe ruhig die Nacht hier bei mir. Geld für ein Nachtlager verlange ich von meinen Gästen nie. Dagegen glaube ich, dass du noch gar nicht zu Abend gegessen hast. Geh mal durch mein Stübchen und sieh, ob du in den Schränken und Schüben etwas zu essen findest!“
Das Mückchen dankte für die Erlaubnis und fing an, nach einem Abendbrot zu suchen. Richtig, da standen noch ganze Schüsseln, die waren bis obenhin mit eiergelbem Blütenstaub gefüllt. Es steckte seinen Rüssel hinein und schmauste, soviel es wollte und mochte.
Nun war es satt. Aber es hatte noch Durst. Es suchte etwas zum Trinken. Ganz hinten standen noch einige Schränkchen. Die öffnete es und fand darin mehrere Krüge, die waren mit lieblich duftendem Honigtrank gefüllt. Darüber war es ganz glücklich. Denn Honigseim trank es am liebsten. Hei, wie der schmeckte! Nun war es satt. Es suchte sich ein warmes Eckchen aus, um noch ein wenig aufzubleiben und der Glockenblume noch etwas zu erzählen. Aber es war sehr müde und matt, und ehe es sich versah, fielen ihm die grünen Perläugelein zu, und es schlummerte ein. Und weil es so müde war, schlief es sehr tief und fest und träumte weder von dem bösen Sturm noch von der guten Glockenblume.
Erst spät am anderen Morgen wurde es wach. Es hätte noch länger geschlafen, wenn nicht eine Lerche mit ihrem lauten Jubilieren gerade über diese Wiese zur Sonne geflogen wäre. Da rieb sich das Mückchen mit den Beinchen den Schlaf vollends aus den Augen und rief erstaunt: „Oooh – wo bin ich denn nur? Ich weiß es ja gar nicht!“
„Noch immer im Gasthaus zur Glocke!“ rief da die liebe Stimme der Glockenblume. „Aber steh nur auf, denn es ist schon spät! Blumen, Vögel und Menschen sind schon längst aufgestanden und arbeiten im warmen, hellen Sonnenschein.“
„Dann muss ich auch geschwind fort“, rief die kleine Mücke, „zu meinen Kameraden. Ich bedanke mich auch schön.“
„Nimm dir zuerst einen Morgenimbiss, dann kannst du wieder besser fliegen“, antwortete die Glockenblume. Da aß die Mücke noch ein wenig von dem Blütenstaub und trank von dem Honigseim. Darauf sagte sie noch einmal der freundlichen Blume: „Danke, danke!“ und flog fort.
Die Glocke läutete aber dem Gast zu Ehren ganz gewaltig in den goldenen Morgen hinein: Bim, bam, bim, bam!
Das Mückchen fand glücklich den Weg nach Hause und spielte bald wieder mit den Kameraden, was es gestern und vorgestern gespielt hatte. –
Aber die Glockenblume hatte bald darauf fünf wunderschöne Samenkinder, denen sie bald etwas vom Besuch des lieben Mückchens erzählte.
Wilhelm Schlipköter