Die Mutter
Ein Märchen
Eine junge Mutter, in der Morgenfrühe vom Schlummer erwacht, beugte sich zärtlich über ihr noch süß schlafendes Kind.
„Mein Liebling, dass dir das Leben immer ein lieblicher Traum sei! Dass ich dich hüten dürfte vor Kummer und Not und dir die Wege bereiten, die zum Glück führen!“
So dachte sie in ihrem Herzen.
Als sie sich wieder emporrichtete, siehe, da gewahrte sie, vor dem geöffneten Fenster stehend, noch im Inneren des Raumes, eine hohe Frauengestalt mit leuchtendem und wunderherrlichem Angesicht. Ein loses, luftiges Gewand umfloss fast durchsichtig der Glieder Ebenmaß. Die weißen Füße aber ruhten auf einer bunten, glitzernden Kugel. Diese hob sich eben vom Boden, als wollte sie durch Wände und Mauern hindurch die Glanzgestalt von hinnen tragen.
„Weile“, rief die Mutter der herrlichen Gestalt zu, „ich kenne dich, ich sah dich oft, wenn auch nur im Traume, du bist das Glück!“
„Nur im Traume schaut der Mensch das Glück. Du sprachst Recht, Weib, und darum halte mich nicht, ich muss von hinnen.“
„Wohin willst du eilen, o Glück?“
„Nach jenen ewig blühenden Gärten, die meine Heimat sind.“
„So nimm uns mit, mich und mein Kind. Nicht um meinetwillen bitte ich dich. Nur um meines Kindes Willen. Denn das ist mein innigstes Wünschen, dass mein geliebtes Kind in den Gärten des Glücks wohnen möge.“
„Törin!“ sagte lachend das Glück. Und dabei schwang sich die Gestalt auf der Kugel höher empor und schwebte durch das Fenster hinaus ins Freie.
„Mitnehmen kann ich niemand, auch nicht dich und dein Kind. Willst du zu den Gärten
des Glücks gelangen, so musst du selbst wandern und suchen. Aber der Weg ist weit für euch Sterbliche, weit und voller Mühsal und Fährnis. Keiner weiß, ob er sein Ende – und die Pforten zu meinen Gärten findet.“ Und schon verblasste im Morgennebel die entschwindende Gestalt.
Da rief die Mutter flehend: „Oh, so sage mir, Glück, wie der Weg dorthin geht! Weise mir die Richtung, ich will den Weg zu dir suchen, für mein Kind, für mein einziges, heiß geliebtes Kind!“
Ferner verhallend erklang des Glücks Stimme: „Ist deine Liebe so stark, groß und voller Ausdauer, so wandere und suche! Dort, wo fern der Morgenstern schimmert, liegt mein Reich. Um den leuchtenden Palast dehnen sich die ewig blühenden Gärten. Wenn deine Mutterliebe alles überwinden und tragen kann, Leid und Entbehrung, Not und Beschwerde, wenn du das Tor zu den Gärten des Glückes findest, wohlan, so soll es deinem Kinde offen steh’ n!“
Die Stimme verklang, die Gestalt war verschwunden. Fern aber tauchte über den Wolken aus Morgendunst einen Augenblick lang ein ragendes Schloss empor mit glänzenden Zinnen, und wie Rosenschimmer üppigster Blüte wehte es darum her. Dann war alles wieder im Nebel versunken. Nur der Stern blinkte blass durch das Grau. Dann ging die Sonne auf.
Das Weib aber nahm sein erwachendes Kindlein vom Lager und schritt hinaus in das steigende Licht des Tages, der Richtung zu, in welcher die Gestalt des Glückes entschwebt, wo in Nebelferne vorhin das Schloss empor getaucht und wieder versunken war.
„Mein Kind“, flüsterte das Weib, „deine Mutter sucht und bahnt dir den Weg zu den Gärten des Glücks!“
Es währte aber nicht lange, so begann der Pfad, den sie wanderte, schmaler und steiler zu werden. Durch Dornengestrüpp und Geröll wand er sich im Zickzack eine Höhe hinan. Mit einem Arm das Kind umfassend, musste die Mutter den anderen brauchen, die Dornsträucher zur Seite zu biegen, dass sie das Kind nicht streiften und ritzten. Oder sie fasste umklammernd einen Felsstein mit der Hand, sich daran emporzuziehen. Langsam nur, langsam und mühevoll ging der Aufstieg. Ihre Hand blutete und schmerzte. Aber sie erlahmte nicht. Und endlich stand sie droben. Sie schaute vorwärts in die Weite, und es war ihr, als tauchte, wieder nur für Augenblicke, vor ihr in weiter Ferne das zinnengekrönte Schloss aus dem Nebel.
Dort, dort war das Ziel – der Garten des Glücks!
War nicht schon der ersten Wegstrecke Mühsal überwunden?
Vorwärts, vorwärts!
Sie ließ das Kind zur Erde gleiten, fasste es bei der Hand und führte es den Pfad entlang, der scheinbar eben, durch eine kahle, sonnendurchglühte Öde sich wand. Bald dörrte Durst der Mutter und des Kindes Lippen; das nach etwas zu essen wimmerte. Die Mutter sah umher, gewahrte ein grünes Pflänzchen am Wegrande. Ein Purpurbeerlein glänzte daran, und freudig brach es die Mutter und reichte es dem Kinde. Den eigenen Durst beachtete sie nicht.
Rauher und unebener, steinübersät wurde der Pfad. Des Kindes zarte Füße verletzten sich, es weinte, und die Mutter nahm es wieder auf den Arm, um es die raue Wegstrecke hindurch zu tragen. Doch fast wollte ihr die Kraft erlahmen in Dürre und Glut, unter Hunger und Durst. Sie atmete auf, als endlich ein Wald sich vor der Wandernden erhob. „Da ist Schatten und Kühle, dort werden wir rasten.“
Doch der Wald war wild und verwachsen. Weglos schien er und sumpfig sein Grund. Nattern ringelten sich aus faulendem Gestämm, giftige Stechmücken umschwirrten die Müden und jagten sie auf von der Rast. Angstvoll irrten der Mutter Augen umher. Sie scheuchte mit den
Händen das stechende Gezücht von des Kindes Antlitz, sie schlug mit einem dürren Zweig auf eine züngelnde Natter, sie durchwatete, das Kind im Arm, den Sumpf, bog das wild verwachsene Gezweig zur Seite und brach sich mühsam Bahn durch das Waldgestrüpp, bis sie endlich, endlich wieder das Freie erreichte.
Aber als sie nun um sich schaute, war es ihr, als sei sie irre gegangen in der Wildnis und habe die Richtung verloren.
Wo ragte er, der zinnengekrönte Palast, wo dehnten sie sich, die ewig blühenden Gärten des Glücks, die zu suchen sie gegangen war um des Kindes willen?
Verzweifelt schritt sie bald nach rechts, bald nach links am Waldsaum hin, bis das Moos an den Stämmen der Bäume ihr die Richtung wies. Nun wanderte sie weiter, hart am Rande eines schwindelnden Abgrundes hin. Auf jeden Tritt musste sie achten, dass er nicht sie selbst und ihr Kind in die Tiefe stürzte, die schwarz und unheimlich sich neben ihr auftat. Nicht zur Seite durfte sie schauen, keinen Augenblick lang ihre Handvon der des Kindes lösen, damit das Verderben sie nicht ereile. Aber sie überwand glücklich auch dieses Stück des Wanderweges.
Aber nur eine kurze Weile lang durfte sie rascher und freier ausschreiten. Plötzlich dehnte sich vor ihr der Spiegel eines Sees, und jenseits, hinter ihm, tauchte aus Wolkenferne wieder der Palast des Glücks auf. Dorthin musste sie über das Wasser oder an seinen weitgeschwunge- nen Ufern entlang in ungeheurem Umweg. Würde dazu die schon sinkende Kraft reichen?
Hoch im Mittag stand die Sonne. Traurig saß sie am Ufer und sann. Da gewahrte sie ein Bienlein, das von ungefähr ins Wasser gefallen war und sich nun an ein Hälmchen klammerte, sich mit diesem ans rettende Ufer treiben lassend. Oh, die Wasser würden, mussten wohl auch sie tragen, sie und ihr Kind, wenn sie nur ein Fahrzeug hätte, ein noch so schwankes, um die Flut zu durchschneiden.
Nachdem sie dem ruhenden Kind Wasser, Wurzeln und Beeren, die sie am Rande fand, zur Labe gereicht, an sich selber wieder nicht denkend, brach sie, mit Anstrengung all ihrer Kraft, Zweige von den Uferbäumen, löste den Bast ab und band sie mit diesem zusammen; dann suchte sie sich einen stärkeren dürren Ast als Ruder. Als sie das Floß prüfte, trug es, und vertrauensvoll setzte sie das Kind und sich selber darauf und trieb es vom Ufer ab. Und siehe, ein freundlicher Wind begann die Wellen zu kräuseln; der trieb Mutter und Kind dem jenseitigen Gestade entgegen.
Aber schwach war das Floß nur, und ein Stück vor dem Ziel begann es sich zu lösen. Das Kind schrie erschrocken auf. Da hob die Mutter es auf ihren Rücken, und mit verzweifelter Kraft schwamm sie, die Wasser teilend, dem Ufer zu, das sie endlich, zu Tode erschöpft, erreichte. Noch einmal war sie dem Verderben entgangen, sie und ihr Kind.
Aber sie gönnte sich noch immer nicht Rast. Durfte sie das?! Vor ihr, näher, ja viel näher jetzt als bisher, schon deutlich erkennbar, sah sie des Glückes Palast mit den blühenden Gärten ringsum auf der Bergeshöhe vor sich. Nur noch eine kurze Weile des Wanderns, dann würde sie ja am Ziele sein, am Tore zu den Gärten des Glücks.
Weiter wanderte sie, das Kind an ihrer Hand tröstend, weil es vor Müdigkeit weinte: „Nur noch ein Weilchen, mein Liebling, dann sind wir dort, wo alle Not ein Ende hat!“
Als sie eine Schlucht durchschritten, legte sich eine steile, jähe Felswand sperrend vor die Wandernden. Es gab kein Hinauf, kein Herum. So nahe dem Ziel sollte die Mutter verzagen?
„Warum narrst du mich, Glück?“ schrie es in ihrem Herzen. „Ich will mein Kind in dein Reich führen; ich will es und werde es. Hat meine Liebe mir geholfen, das Wasser zu durchqueren, so soll sie auch den Weg durch den Felsen mir bahnen.“
Am Felsen hin schreitend und spähend, gewahrte sie endlich in demselben einen Spalt, durch den ein Lichtschimmer drang, verratend, dass die sperrende Felsenwand nur gering an Dicke sein könne. Aber der Spalt war doch viel zu eng, als dass sie sich und das Kind hätte durchzwängen können. Sie nahm einen Stein vom Boden auf und begann an dem Spalt zu schaben und zu reiben. Splitter lösten sich vom Felsen unter dem schleifenden Stein.
„Nur Geduld und Fleiß, so durchbreche ich den Felsen, und bahne den Weg mitten hindurch für mich und mein Kind!“
Und sie fuhr fort in der Arbeit. Es währte lange, ihre Arme wollten versagen, ihre Hände bluteten und brannten. Aber als die Sonne sich abendwärts zu senken begann, da war der Spalt weit genug, dass sie sich, das Kind nach sich ziehend, hindurchzuzwängen vermochte, hinein in eine Höhle, die sich erweiterte und endlich als Tor ins Freie leitete. Da sah sie nun auf dem Gipfel des Berges, an dessen Fuß sie stand, den Palast mit den leuchtenden Zinnen, atmete schon die balsamischen Düfte, die von den Gärten des Glücks hernieder wehten.
Obwohl ihre Knie wankten und ihre Augen sich umfloren wollten, ihr Nacken sich müde beugte, mochte sie sich doch nicht ein letztes Ausruhen gönnen.
„Nur noch dort hinauf, mein Liebling, dann sind wir, dann bist du geborgen.“
Aufwärts strebte sie, das Kind halb führend, halb tragend, und so nahe am Ziel sie sich gedacht. So endlos lang erschien ihr dies letzte Stück des Wanderweges, und es war doch das leichteste. Endlich, als die Sonne wie ein roter Feuerball im Westen sank, mit den letzten Strahlen die Zinnen des Palastes vergoldend, stand die Mutter mit ihrem Kinde vor dem hohen, ehernen Gittertor, hinter dem die ewig blühenden Gärten des Glücks sich dehnten. Wankend und atemlos stand sie da. Das Kind aber sah nicht mehr auf die Mutter, es sah nur den schimmernden Palast, die herrlichen Gärten und löste sich von jener, dem Tore zuzustreben.
Da sprang das Tor auf. Nach beiden Seiten schnellten seine ehernen Flügel, und von ihrer Wucht getroffen, stürzte die müde, wankende Mutter zu Boden, kraftlos, klaglos und ohne Leben.
Das Kind aber eilte an der sterbenden Mutter vorüber hinein in den Garten des Glücks.