***Der Hund des Bildhauers aus dem Schweizer Tierschutzkalender 1904***
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Der Hund des Bildhauers

Ich habe einen Freund, der als Bildhauer schon manches schöne Kunstwerk geschaffen hat. Das größte ist der Broderbrunnen in der Stadt St. Gallen. Und wie merkwürdig! Der Bildhauer ist vollständig taub. Wenn man neben ihm eine Kanone abfeuert, so spürt er wohl den Luftdruck, aber er hört es nicht. Umso schärfer ausgebildet ist sein Auge, und weil ihm der Verkehr mit den Menschen schwer fällt, so denkt er umso mehr nach. Er kann auch, obschon undeutlich in seiner Aussprache, vortrefflich erzählen.

Wir saßen eines Tages in Rom beisammen, als er uns eine kleine Geschichte von seinem Hunde zum Besten gab, die ich euch so gut wie möglich – der Bildhauer kann es viel besser – erzählen will.

Der Hund heißt Azor und ist ihm lieber als die meisten Menschen. Wenn der Bildhauer in seinem Atelier arbeitet, und jemand an seiner Tür klopft, so hört er es nicht. Da stellt sich dann Azor vor ihn hin und bellt oder zerrt ihn am Ärmel, um anzuzeigen, dass jemand an der Tür sei und herein wollte. Und wenn der schwere Mann sich abends müde in sein Bett legt, so schläft er wie ein Sack. Dann könnten Diebe durch Tür und Fenster einbrechen und ihn vollständig ausrauben, er würde es nicht hören. Da wacht dann Azor für ihn, und wenn er ein verdächtiges Geräusch hört, so zerrt er den Schläfer am Hemd oder an der Nachtmütze, bis er aufwacht und Licht macht.

Aber auch den Tag über tut der wackere Hund gute Dienste. Wenn dem Bildhauer bei seiner Arbeit der Tabak ausgeht oder die Zigarren alle werden und er selber nicht ausgehen mag, so nimmt er 50 Rappen, wickelt sie in ein Papier, ruft den Azor und sagt „Tabak!“. Dann rennt der Hund mit dem Papier in der Schnauze in den Laden, wo der Bildhauer immer hingeht, und bringt in fünf Minuten voll Freude das Gewünschte. Daraufhin bekommt der treue Diener aber auch seinen Lohn. Der Bildhauer wickelt zwanzig Rappen in ein Papier und sagt: „Azor, das ist für dich!“ Damit läuft Azor, so schnell er kann in den Metzgerladen. Es ist der Metzgerladen, wo der Bildhauer sich oft eine Wurst kauft. Dort tut er sich an Abfällen gütlich, die ihm der Metzger gibt. Diese Besorgung macht er am liebsten. Es ist aber auch begreiflich an einem Hund, der einen guten Appetit hat.

Aber jetzt kommt ein böser Tag und eine böse Geschichte:

Azor wird mit fünfzig Rappen wieder mal in den Tabakladen geschickt und kommt nicht mehr zurück. Eine halbe Stunde, eine ganze Stunde vergeht – und immer noch kein Hund und kein Tabak. Dem Bildhauer wird bang, Azor könnte ihm abgefangen worden sein, oder er habe Kameraden gefunden und beim Spielen mit ihnen das Geld verloren. Er setzt den Hut auf, nimmt den Stock in die Hand und geht in den Tabakladen. – „Ist Azor vorhin  nicht da gewesen?“ – „Nein“, bedeutet ihm der Krämer. – Dem Bildhauer kommt ein schlimmer Verdacht. Sollte der Schlingel, statt seine Pflicht zu tun, in den Metzgerladen gelaufen sein und für sich selber gesorgt haben? Richtig. Im Metzgerladen erfährt er, Azor sei vor einer Stunde da gewesen, und habe für fünfzig Rappen Fleisch bekommen. „Es ist mir aufgefallen, Herr“, sagt der Metzger, „dass Sie so freigiebig waren, aber ich habe gedacht, es sei Ihr Geburtstag, und Sie wollen dem Azor zum Festtag ein Vergnügen bereiten.“

Im Heimgehen schwingt der Bildhauer etwas wild den Stock in der Hand und denkt: Wart’ Azörli, schlimmer Röhrli, dir will ich die Flausen vertreiben, wenn du heimkommst.“ Aber Azor muss so etwas geahnt haben, denn er kommt nicht wieder. Oft macht der Bildhauer die Tür auf, aber kein Azor kommt zurück. Es wird Nacht. Traurig wirft sich der Bildhauer aufs Bett. Wenn er seinen guten, lieben, treuen Freund verlieren sollte? Er wollte ihm kein Haar krümmen, wenn er doch nur wiederkäme! Wenn er ihn nur wiederhätte! Am anderen Morgen kann der Bildhauer vor Unruhe nicht arbeiten und geht spazieren, in der Hoffnung, der arme Sünder werde ihn vielleicht sehen und sich ihm wieder anschließen. Oft kehrt er sich um und ruft im zärtlichen Ton: „Azor! Azörli!“ Da, um Mittag, sieht er sich wieder um und erblickt den Hund weit hinter sich, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. In seiner Freude hätte der Bildhauer den Sünder am liebsten auf den Arm genommen und liebkost. Er sagt sich jedoch: „Strafe muss sein!“ und schreitet stramm weiter, als ob er den Hund gar nicht beachte und nichts mehr von ihm wissen wolle. Dieser schleicht seinem Herrn von weitem nach, bis sie zuhause sind. Ins Zimmer wagt sich der geängstigte Hund vorerst nicht. Stattdessen legt er sich vor die Tür, als ob er sagen wollte, er sei es nicht mehr wert, in seine frühere Stellung zu kommen. Der Bildhauer tut, als sehe er ihn kaum und lässt ihn noch einen ganzen Tag und eine ganze Nacht hungern.

Dann denkt er, es sei jetzt genug der Strenge, wickelt fünfzig Rappen in ein Papier und ruft den Azor. Der kommt ganz kläglich, an der Erde rutschend, heran. „Azor“, sagt der Bildhauer, sieht den Hund scheinbar zornig an und droht mit dem Zeigefinger. „Azor, Tabak! Tabak! Tabak!“ Wird der arme Azor, ausgehungert, wie er ist, wieder zum Metzger laufen und den rasenden Hunger stillen? Eine hungernde Kreatur ist ja oft so schwach!

Nein, ehe fünf Minuten vergangen sind, ist Azor wieder da und übergibt mit tausend Freuden, was ihm befohlen worden. Dem Bildhauer kommen Tränen der Freude ins Auge. Die Treue hat gesiegt. Die Freundschaft ist wiederhergestellt. Nun bekommt Azor auch seine Fleischportion wieder, und wie süß schmeckt sie ihm! Denn ein gutes Gewissen ist nicht nur ein sanftes Ruhekissen, sondern würzt auch die Mahlzeit. Seither verwechselt Azor den Tabakladen mit dem Metzgerladen nicht mehr.



Aus dem

Schweizer Tierschutzkalender 1904