Was „der verdrehte Kunz“ erlebte
Es lebte einmal vor langen Jahren in einem Dörfchen im schönen Thüringen ein armer Bauernsohn namens Kunz, den man überall den „verdrehten Kunz“ nannte. Er ging nämlich umher, als träume er, und wenn ihn jemand anredete, so zuckte er zusammen, als erwache er soeben aus tiefem Schlafe. Wo immer er nur ein Buch oder ein Stücklein Papier fand, auf dem etwas geschrieben stand, da las er es und vergaß Arbeit, Essen und Trinken darüber; aber am allerliebsten ließ er sich von den alten Frauen im Dorfe die uralten Märchen und Geschichten erzählen.
Für sein Leben gern hätte er selbst solche Märchen und Geschichten geschrieben; aber das konnte nur ein Dichter, und um das zu werden, musste man im Märchenlande gewesen sein und von der Märchenfee eine Feder vom blauen Wundervogel erhalten haben. Dann konnte man alles schreiben, was man wollte – so sagte die alte Kathrin, die älteste Frau im Dorfe, und die musste es doch wissen.
So machte sich dann Kunz eines schönen Tages heimlich auf, das Märchenland zu suchen.
Schon mehrere Tage war er gewandert mit seinem Bündelchen auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand, als er an einem wunderschönen Sommermorgen vor einen großen, dunklen Wald kam. Als er ein Stück hineingegangen war, da merkte er schon, dass er nun im Märchenlande sein müsse.
Dicht wölbten sich die Baumkronen hoch über ihm zusammen, und wenn ein leiser Windstoß hindurch fuhr, so raunten und flüsterten die Blätter miteinander und erzählten sich lange Geschichten, und die Blumen blühten viel reicher und dufteten viel stärker als anderswo, und die Mooswege waren so weich, wie der feinste Samt, und die Vögel sangen so herrliche Lieder, wie Kunz sie noch niemals zuvor gehört hatte.
Als er tiefer hineinkam, sah er links am Wege eine dichte Rosenhecke, und dahinter schimmerte es wie von grauen, verwitterten Mauern. Da dachte Kunz klopfenden Herzens an Dornröschens Schloss, und – leuchtete da nicht Rotkäppchens rotes Röcklein durch die Bäume, und huschte dort hinten nicht ein Zwerglein über den Weg? Dem Kunz glühten die Wangen. Ihm klopfte das Herz immer stürmischer vor Glückseligkeit. Sicher, nun war er im Märchenlande! Nun galt es nur noch, die Märchenfee zu finden.
Es war sehr warm, und der Kunz war müde und hungrig geworden, und als er daher auf einen schönen, freien Waldfleck kam und eine luftige kleine Quelle aus einem Stein hervorspringen sah, setzte er sich nieder, zog ein Stücklein Brot aus der Tasche und löschte seinen Durst mit dem frischen Quellwasser, das genau wie der feinste Wein schmeckte; denn dafür war er
ja im Märchenlande. Dann streckte er sich lang aus auf dem weichen Moose und schlief ein.
Plötzlich wurde er durch ein lautes Gequake gestört. Erschreckt fuhr er auf und erblickte vor sich einen großen grünen Frosch, einen richtigen Märchenfrosch, der viel größer war als andere Frösche und ganz absonderlich kluge Augen hatte. Dessen Gequake klang so ausdrucksvoll, dass Kunz ganz deutlich „Hilf mir, hilf mir!“ zu verstehen glaubte. Als er sich den Frosch näher ansah, bemerkte er, dass er das eine Beinchen gebrochen hatte. Flugs zog der Kunz sein Sacktüchlein hervor, riss einen Streifen davon ab und umwickelte geschickt das Froschbeinchen damit. Da quakte der Frosch: „Hab Dank!“ und hüpfte fröhlich fort in die Höhle hinein, die sich unter der Wurzel einer alten Eiche zeigte.
Kunz wollte gerade aufstehen, um weiterzugehen, da ging es wie ein leises, feines Raunen und Flüstern durch den Wald, und ein herrlicher, blau schillernder Vogel kam angeflogen, setzte sich auf den Eichbaum und sang laut und jubilierend: „Sie – sie – sie – ist schon hie, ist schon hie!“
Und da schimmerte es auch schon wie silberweißes Spinnengewebe und gesponnenes Gold zwischen den Baumstämmen, und hervortrat die allerschönste Frau, die Kunz je gesehen hatte. Ihr Gesicht war tausendmal lieblicher als das der schönsten Blume, ihr langes goldenes Haar reichte fast bis zur Erde, und auf dem Haupte trug sie eine kleine goldene Krone. Sie setzte sich unter die Eiche, und der große Frosch kam wieder hervorgehüpft, setzte sich vor sie hin und stimmte ein eifriges, lautes Gequake an, dem die Fee aufmerksam lauschte. Und jetzt verstand Kunz auch ganz deutlich, was er sagte: „Hat ein Mensch getan – hat ein Mensch getan!“
Da blickte die Fee sich suchend um, und Kunz nahm all seinen Mut zusammen, kam zitternd näher, zog seine Mütze und sagte: „Mit Verlaub, allergnädigste Fee, mein Name ist Kunz.“
Die Fee sah ihn von oben bis unten an mit ihren wunderbaren tiefen, blauen Augen, und dann lachte sie, und ihr Lachen klang so silberhell, wie das Plätschern der kleinen Waldquelle, und dann sprach sie zu Kunz, und ihre Stimme klang so süß und fein, als berühre jemand mit leisem Finger eine goldene Saite:
„Und was willst du hier in meinem Reiche?“
Dem Kunz zitterten die Knie vor Schreck, und er stotterte: „Wenn ich um eine Feder vom blauen Wundervogel bitten dürfte. Ich – ich möchte’ gar so gern Geschichten schreiben können – und die alte Kathrin meint wenn ich eine Feder…“
Da lachte die Fee wieder ihr helles, silbernes Lachen: „Also, ein Dichter will der Kunz werden? Nun, da du meinem getreuen Diener, dem Frosche, so hilfreich gewesen bist, will ich dir auch helfen.“
Sie ließ einen leisen, lockenden Ruf ertönen, und all so gleich ließ sich der köstliche, blau schillernde Vogel auf ihrer Hand nieder. Sie entnahm seinem Gefieder eine Feder, wickelte eins ihrer goldenen Haare darum und reichte sie dem Kunz. Der wusste vor Glückseligkeit gar nicht, was er sagen sollte; aber die Fee meinte: „Alles hat die alte Kathrin doch nicht gewusst. Zwei Dinge fehlen noch“, und sie gab dem Frosch einen Wink. Da hüpfte er hinein in die Höhle und kehrte nach einer kurzen Frist wieder zurück.
„So, das ist das Zweite“, sprach die Fee, und Kunz sah nun, dass der Frosch eine rosa Brille im Maule hielt.
„Knie nieder!“ befahl sie, und als Kunz zitternd gehorchte, setzte sie ihm mit ihren Lilienfingern die Brille auf die Nase.
„Sie ist unsichtbar für die Menschen, aber du wirst schon merken, dass du sie aufhast. – Und das ist das Dritte“, sprach sie sanft, beugte sich über ihn und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Da schwanden dem Kunz die Sinne, und es war ihm, als fiele er immer tiefer – immer tiefer – hinein in einen tiefen Abgrund.
Als er wieder zu sich kam, lag er mitten im Wald unter einem Baum. Erschrocken suchte sein Blick die Feder. Und wirklich, da lag sie in seiner Hand. Dann fasste er nach der Brille, aber die war nicht da. Doch nun erinnerte er sich, dass die Fee gesagt hatte, die Brille sei unsichtbar.
Und richtig, er fühlte ja, dass er sie aufhatte, ganz deutlich fühlte er es. Und den Kuss der Fee, den fühlte er auch, der glühte wie Feuer auf seiner Stirn.
Da zog der Kunz fröhlich heim, und kaum war er zuhause angelangt, da fing er an zu schreiben, und die Geschichten, die er schrieb, wurden viel, viel schöner als die von anderen Dichtern. Denn er hatte ja die Feder vom blauen Wundervogel, die rosa Brille und den Kuss der Märchenfee.
Wer weiß, vielleicht habt ihr auch schon einmal eine Geschichte von ihm gelesen.
Ilse Dore Tanner