Süßholzgesichtchen
Im hohen Norden, an den Ufern des Flusses Pukon, dort, wo sein Wasser sehr schnell dahinrauscht, ehe er sich in den Ozean ergießt, lag ein indianisches Dorf.
Dieses Indianerdorf bestand aus nur wenigen niedrigen Häusern, die zum Teil in die Erde
hineingebaut waren. Die niedrigen Wände, die aus der Erde herausragten, wurden durch
Baumstämmchen gebildet, die durch Moos und Erde miteinander verbunden waren.
Es gab weder Türen noch Fenster in diesen Hütten.
Der Eingang, der in das Innere eines jeden Häuschens führte, war niedrig und dunkel. Oft diente er den Hunden des Dorfes als Schlafstätte. Vor dem Eingang hing eine Grasmatte, die den Raum dahinter verschloss. Im flachen Dach des Häuschens befand sich ein Loch, das mit einem durchlöcherten Robbenfell bedeckt werden konnte. Dies diente einem doppelten Zweck: Einerseits sollte das trübe Tageslicht in den Raum hineingelassen werden, andererseits musste der Rauch herausgelassen werden.
Das Innere des Häuschens bestand aus einem viereckigen Raum, auf dessen drei Seiten eine breite, niedrige Holzbank angebracht war. Die Frontwand, durch deren Eingang man kletterte, war frei. Der Boden war mit Renntierfellen und Grasmatten bedeckt, die gleichzeitig als Betten und als Sitze dienten. In der Mitte des Raumes war der Feuerherd,
der die Hütte mit Rauch erfüllte. Ein Sessel, ein Wassereimer, einige hölzerne Löffel und Näpfe, die durch den Gebrauch schon ganz schwarz geworden waren, bildeten die ganze Ausstattung der Hütte.
In einem solchen düsteren, rauchigen Hüttchen wurde eines Tages das kleine Mädchen „Süßholzgesichtchen“ geboren. Es wurde in ein altes Stück Sacktuch gehüllt, und seine Glieder wurden fest umwickelt, damit sie gerade erhalten wurden. Seine kleine Wiege, die aus einem Stück Birkenborke gemacht wurde, sah aus wie eine Kohlenschaufel ohne Griff.
Aber trotz der Dunkelheit und dem Mangel an Sauberkeit darin, wuchs das kleine Mädchen heran wie andere Kinder. Es krähte und lachte und schaute sich mit seinen schwarzen, glänzenden Augen in seiner Welt um.
Dann hängte der Vater für die kleine Tochter ein Schwingbrettchen auf, das die Mutter sachte hin und her bewegte, wie eine Schaukel, während sie daneben saß und Fellkleider nähte. Dazu sang sie ihrem Kind ein indianisches Wiegenlied.
Ihre Mutter war es auch, die den Namen der Kleinen gewählt hatte. Mit dem neugeborenen Mädchen auf dem Rücken ging sie in das Rathaus des Dorfes und verkündete den alten Männern den Namen der Kleinen, und diese teilten ihn allen anderen Dorfbewohnern mit. Dann bereitete die Mutter ein Festessen, die beliebte Eiscreme,
die in großen hölzernen Näpfen aufgetragen wurde.
Süßholzgesichtchen war ein sehr niedliches, rundliches Dingelchen, das sein Dasein genoss, ohne zu wissen, was es entbehrte. Bald wuchs es heran, lernte gehen und laufen und sich selbst behelfen. Wie eine kleine Pelzkugel, gekleidet mit einer Felljacke aus Eichhörnchenfell und Stiefelchen und Pulswärmer aus Renntierfellen, tollte sie im Schnee umher. Manchmal glitt sie auch mit ihren Spielgefährtinnen in den großen, hölzernen Fischnäpfen, die als Schlitten dienten, die niedrigen Abhänge hinunter. Eine hinter der anderen, rutschten sie pfeilschnell hinunter. Die lachenden Gesichter hatten sie fast unter ihren großen Pelzkappen verborgen und die Beinchen waren über den Rand des zurechtgemachten Schlittens ausgestreckt. Oder die Kleine saß neben der Mutter und machte ihre ersten Versuche im Nähen, oder sie lernte, mit einem winzigen Stäbchen, das zu ihren kleinen Händen passte, Fischernetze zu knüpfen.
Eines Tages sagte ihr Vater: „Es ist Zeit, dass unsere kleine Tochter ihre erste Arbeit verrichtet. Dazu müssen wir ihr zu Ehren ein Festmahl mit Eiscreme geben.“
Die Mutter stimmte ihm zu, und am folgenden Tag bekam die Kleine einen Wassereimer aus Zinn in ihre Händchen und musste neben der Mutter hertrippeln, und diese zum Fluss begleiten. Dort musste sie den Eimer in das Loch, das man im Eis offen hielt, senken, ihn mit Wasser füllen, und ihn dann sorgsam, ohne etwas zu verschütten, auf dem gefrorenen Wege nach Hause tragen. Nach mühsamem Weg dort angekommen, reichte sie den alten Männern und Frauen dieses, ihr erstes selbst geholtes Wasser, zum Trinken.
Dann mischte ihre Mutter die Eiscreme. Süßholzgesichtchen sah ihr dabei zu, ohne sich darüber bewusst zu werden, dass dieser Tag für sie der Anfang eines mühseligen Lebens war, in dessen Verlauf sie vielleicht auch alt und gebückt werden würde, wie die Frauen, die so stumpf und mit so trübseligem Gesichtsausdruck dasaßen.
Aber noch war sie ein frohes Kind, das Spiel und Scherz liebte und sich nicht kümmerte um Kälte und Beschwerden. Sie wusste nichts von den Annehmlichkeiten der Kinder in anderen, reicheren Ländern. So saß sie und sah ihrer Mutter zu, wie sie das Renntierfett schmelzen ließ, den Schnee hineinrührte und die roten, gefrorenen Kranichbeeren und die weißen Baumwollholzbeeren dazugab und rührte und rührte, bis die Creme gefroren war.
Diese musste das kleine Mädchen nun den alten Männern anbieten, die um das Feuer herumsaßen und dem lächelnden Süßholzgesichtchen Beifall klatschten, weil es so eifrig seine neuen Pflichten erfüllte.
Dann kam der Frühling. Die düsteren, rauchigen Hütten wurden verlassen. Die Menschen wohnten fortan draußen im Freien unter Zelten. Als der Fluss ganz frei von Eis geworden war, saß die Kleine mit ihrer Mutter im langen, schmalen Kanu und hielt ein kleines Ruder in ihren Händen. Dieses tauchte sie bedächtig und mit großer Wichtigkeit ins Wasser. Sie war noch zu klein, das Ruder selbst zu führen; aber mit der Zeit, als sie älter wurde, flog ihr Kanu ebenso schnell über das Wasser des Pukon hin, wie das der anderen Mädchen des Dorfes.
Es kam die Zeit, da wurden die Tage immer länger, und die Kinder genossen das entzückende Leben, das der kurze Sommer ihnen gestattete. Es war so schön, dass sie sich am liebsten Tag und Nacht draußen umhertummelten, spielend und scherzend und singend. Arm in Arm streiften die kleinen Mädchen auf den Hügeln umher, sahen der Sonne zu, die jetzt so spät ins Meer sank und schon so früh wieder aufging. Sie suchten wilde Rosen und bunte Sommerblumen, horchten auf den Ruf jedes Vogels und riefen ihm lustige Antworten zu. Sie bewunderten die Vogelnester, sammelten Holz, schichteten es für ein Feuer und tanzten drumherum, bis sie endlich müde wurden. Dann warfen sie sich neben dem Feuer auf die Erde, um ein paar Stündchen zu schlafen und dann zu neuem Genuss wieder aufzuspringen.
Als dann die Zeit kam, wo der Lachs sich zeigte, der so schnell unter dem Wasserspiegel her schoss, hielt die Kleine nach ihrem Vater Ausschau, bis er sein Boot voll von glänzenden Fischen von der Fangstelle zurückbrachte. Sie half dann ihrer Mutter beim Sortieren des Fangs. Von Tag zu Tag wurde sie geschickter, mit ihren kleinen Fingern, die Fische auseinander zu teilen, zu reinigen und zum Trocknen aufzuhängen, damit sie alle während des langen, kalten Winters Nahrung genug haben würden. Sie lernte außerdem, das Feuer anzumachen und die Fische im großen Fischeimer zu kochen. Das war eine schwierige Arbeit für das kleine Mädchen. Aber zwischendurch kam mal wieder ein Tag, an dem sie im Freien umherstreifen konnte, um Beeren zu sammeln. Sie sammelte Lachsbeeren, rote Himbeeren, Johannisbeeren und Blaubeeren, und die beliebten roten Blätter der wilden Rose, die um diese Zeit überall um ihre Sommerzeltwohnungen her zu finden waren.
Und dann kam die schönste Zeit des Jahres. Die Tage wurden kürzer, und die Luft wurde kühler. Die Frauen und Kinder ruderten mit ihren Zelten und Sesseln in den großen Familienbooten zu den entfernteren Hügeln, um die Kranichbeeren für die leckeren Winterfestmahlzeiten zu sammeln. Die Kleinen pflückten eifrig mit, und bald waren ihre Körbchen aus Birkenborke voll. Wie flogen die Füßchen die Hügel hinunter, um die Körbchen in die großen Körbe, die am Ufer neben den Booten aufgestellt waren, auszuleeren. Dann liefen sie mit ihren leeren Körbchen wieder fort, und wieder und wieder füllten sie ihre Gefäße und rannten lachend und jubelnd die Hügel hinauf und hinunter. Abends saßen sie dann alle um das Feuer im Freien herum und erzählten sich Geschichten. Immer wieder erzählten sie sich die alten, schon oft gehörten Sagen, die sie alle so gern hörten, bis sie in der kühlen Herbstluft müde wurden. Dann breiteten sie duftende, grüne Zweige unter den Bäumen oder in den Zelten aus und legten sich zum Schlafen nieder. Alles wurde dann still bis zum nächsten Morgen, an dem sie lustig von vorn anfingen.
Das waren glückliche Tage. Glückliche Kinder waren diese Kleinen, obwohl sie oft hungrig, barfuss und in Lumpen herumliefen. Aber daraus machten sie sich nichts. Hatten sie doch keine Sorgen, keinerlei Zwang, und keine gefürchtete Schulzeit folgte dem freien Umherstreifen.
Jedoch war das Leben für Süßholzgesichtchen nicht immer ein Ferienleben. Oft musste sie tagelang neben ihrer Mutter sitzen, während ihr der Rücken und die Finger wehtaten, um eilig das Fischnetz für den Vater fertig zu machen, oder um für sich und ihre Geschwister Fellkleider zu nähen. Im Winter musste sie vor dem Hundeschlitten herlaufen, wenn ihr Vater und ihre Brüder nach Holz gingen. Oft musste sie auch zu der Fischstelle im Eis mitgehen, wo sie die großen Klötze herausziehen musste. Dann half sie auch noch, den Schlitten mit den Fischen zu beladen, bis ihre Hände und Füße selbst wie Eis waren. Und dann hatte sie schwere Eimer voll Wasser vom Eisloch zu holen, und die Fische zu kochen und ihren Vater zu bedienen, ehe sie ihren eigenen Hunger stillen konnte.
Kein Sonntag, keine Feiertagsruhe unterbrach die Wochenarbeit, denn von Gott und von seinem Gebot „Am siebenten Tage sollst du ruhen“ wusste niemand etwas in diesem Dorfe.
Die Zeit war nicht mehr fern, wo Süßholzgesichtchen, das jetzt ein großes Mädchen geworden war, etwas von Gott hören sollte und dadurch glücklich wurde.
Um diese Zeit starb ihr kleiner Bruder „Perle“. Sie hatte ihn zärtlich geliebt und oft auf dem Rücken umher getragen, wie ihre große Schwester sie einst getragen hatte. Und nun sah sie ihn leblos daliegen, ohne das gewohnte Lächeln, das er immer für sie hatte, und ohne die Arme nach ihr auszustrecken, wie er es so oft getan hatte.
Angekleidet mit seinem kleinen Pelzmäntelchen hatten sie ihn halb aufrecht hingesetzt, neben ihm lag ein Fisch, und sein Wasserbecher stand dabei. Die Mutter glaubte, er brauche beides für seine lange Reise in eine unbekannte Welt. Auch ein kostbares Stück Kerze wurde ihm mitgegeben, um seinen Weg zu erleuchten.
Alles dies sah Süßholzgesichtchen, als sie weinend neben seiner kalten Hülle saß. Sie wusste nichts von dem guten Hirten, der seine Lämmer liebt und sie in seinen Armen trägt. Sie wusste nichts von einer Wiedervereinigung irgendwann und kannte keine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Untröstlich weinte sie immerfort bittere Tränen. Am Tag hörte sie den Klagen der Frauen zu, und die ganze Nacht hindurch ertönten Totengesänge der Männer. Sie erklangen bis „Perle“ und seine Schätze hinausgetragen wurden. Da war der kleine Liebling ihren Augen für immer entrückt.
Aber es kam noch trauriger: Ihre Eltern folgten beide ihrem kleinen Sohn bald ins unbekannte Jenseits.
Süßholzgesichtchen lebte nun bei ihrer älteren, verheirateten Schwester und deren Familie. Sie zogen in ein anderes Dorf, und das war ein Glück für sie.
Denn dort war eine Missionsstation, und bald wohnte Süßholzgesichtchen nicht mehr unter dem Indianerzelt im Dorfe, sondern unter dem Dach des Missionshauses. Das verwaiste Kind war selbst zu der netten Missionarsfrau gekommen, die sich so liebevoll um die Menschen kümmerte, und hatte sie gebeten, sie als Hilfe ins Haus zu nehmen. Sie wurde gern aufgenommen und lernte bald Ordnung und Reinlichkeit kennen. Sie lernte einfache Hausarbeiten, und ihr gewandtes und dabei sanftes Wesen, ihr Lerneifer und ihre Bereitwilligkeit, anderen zu helfen, erwarben ihr die Liebe der Missionarsfamilie. Sie erfuhr von Gott und wandte sich dem Glauben an ihn zu. Das war gut so, denn ihr Herz fühlte sich fortan frei von Kummer und Leid, und das Leben machte ihr wieder Freude. Sie ließ sich sogar taufen.
Ein halbes Jahr lebte sie als Christin im Missionshause. Dann wurde sie krank. Sie litt unter einem Lungenleiden, wie so viele Menschen aus ihrem Volk zu der Zeit. Ihre Schwester bestand darauf, dass sie zu ihr zurückkehrte.
So oft Süßholzgesichtchen konnte, besuchte sie „ihre“ Missionsfamilie. Auch in die Kirche ging sie manchmal. Aber dann wurde sie zusehends schwächer. Sie ist bald gestorben.
Dann war sie erlöst und befreit von den Leiden und Lasten des Lebens. Nun war sie dort, wo die auf sie warteten, die sie im Leben geliebt hatte.
Sie war dort angekommen, wo sie auf diejenigen, die noch auf der Erde verweilten, warten würde, bis auch sie zu ihr kommen würden.
Frau Missionar Fley